Gemeinsam mit Berlin for India und India Solidarity Germany haben wir einen offenen Brief an deutsche Bundestags- und Europaabgeordnete versendet, um deren Aufmerksamkeit auf den Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi in Berlin am 2. Mai 2022 zu lenken. Wir möchten diesen Anlass nutzen, um unsere Bedenken bezüglich dieses Treffens auszudrücken und auf den authoritären Rechtsruck und die alarmierende Menschenrechtslage in Indien hinzuweisen.
Unser Brief
Berlin, 28. April 2022
Liebe/r Frau … / Herr …,
Wir schreiben Ihnen wegen des Besuchs des indischen Premierministers Narendra Modi aus Anlass des 6. deutsch-indischen Regierungstreffen am 1. und 2. Mai 2022.
India Justice Project, Berlin for India und India Solidarity Germany sind Vereinigungen von indischen und deutschen Bürger*innen, die in Deutschland leben, und die aufgrund der sich massiv verschlechternden Menschenrechtssituation in Indien äußerst besorgt sind.
Indien erlebt derzeit einen beispiellosen autoritären Rechtsruck in Gesellschaft und Politik unter der Herrschaft der Hindu-nationalistischen „Indischen Volkspartei“ (Bharatiya Janata Party/BJP) von Premierminister Narendra Modi. Es ist nicht das erste Mal, dass die von der Verfassung geschützten Rechte der Inder*innen von der indischen Regierung systematisch untergraben werden. Die aktuelle Situation ist jedoch besonders dringlich und erfordert umgehend die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft.
Seit Narendra Modi 2014 an die Macht kam, haben Mitglieder und Anhänger*innen der BJP – einschließlich derer, die direkt mit Minister*innen in BJP-Regierungen in indischen Bundesstaaten in Verbindung stehen – gewaltsame Angriffe verübt, die das Leben und die Lebensgrundlagen von Minderheiten und marginalisierten Gemeinschaften bedrohen. Die indische Regierung hat Gesetze/Bestimmungen geändert, aufgehoben und/oder eingeführt, die den am stärksten benachteiligten Gemeinschaften, Muslim*innen, Christ*innen, Sikhs, Bäuerinnen und Bauern, Arbeiter*innen, Dalits, Adivasi (indigene Gemeinschaften) oder Kaschmiris ihre Rechte nehmen. Täter*innen, die gewalttätige Hassverbrechen begehen, genießen staatlichen und gerichtlichen Schutz vor jeglicher Form der Strafverfolgung.
Diese Regierung hat extreme Polizeigewalt und andere gewaltsame Methoden eingesetzt, um legitimen und friedlichen Demonstrant*innen Schaden zuzufügen, wie in Kaschmir, in der Bewegung gegen die diskriminierenden CAA/NRC-Gesetze und bei den Protesten der Bäuerinnen und Bauern (um nur einige Beispiele zu nennen). Die Regierung hindert Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen daran, ins Ausland zu reisen oder mit der internationalen Gemeinschaft zu sprechen. Sie nutzt äußerst repressive „Anti-Terror“-Gesetze, um Menschenrechtsverteidiger*innen, Akademiker*innen, Anwält*innen, Journalist*innen, Umweltschützer*innen, Dichter*innen, Student*innen und sogar Comedians noch bevor Prozesseröffnung auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren. Deshalb möchten wir betonen, wie dringend die internationale Gemeinschaft gebraucht wird, um zu beobachten, zuzuhören und zu handeln.
Am 12. Januar 2022 warnte der Vorsitzende und Gründer von „Genocide Watch“, Gregory Stanton, vor dem US-Kongress, dass es deutliche Anzeichen für einen Völkermord an den Muslim*innen in Indien gebe.[i] Er führte dabei aus, dass ein Völkermord nicht unbedingt mit der Massenvernichtung der Juden vergleichbar sein müsse; vielmehr werde er die Form von Mob-Gewalt annehmen und langsam in das Bewusstsein der Mehrheit einsickern. Daher möchten wir Sie mit diesem Schreiben insbesondere auf die zunehmende Verfolgung der kulturellen und religiösen Identität der Muslim*innen in Indien in den letzten sieben Jahren aufmerksam machen, insbesondere auch aufgrund der Befürchtung eines drohenden Völkermords.
- Gesetze wie das Verbot Kühe zu schlachten und das Anti-Konversionsgesetz verletzen das Recht der muslimischen (und christlichen) Gemeinschaften, zu essen was sie möchten und die Religion ihrer Wahl zu praktizieren. Unprovozierte Angriffe auf Muslim*innen durch hinduistische Mobs sind in Indien zur Routine geworden – Lynchmorde an muslimischen Männern durch „Kuhschutzgruppen“(‚Cow Protection‘ Groups), immer wiederkehrende Angriffe auf Moscheen und Kirchen, Hindernisse beim Beten sind im heutigen Indien an der Tagesordnung.
- Religionsübergreifende Ehen zwischen selbstbestimmten Erwachsenen werden von hinduistischen Rassist*innen ins Visier genommen, weil sie glauben, dass muslimische Männer hinduistische Frauen zur Konversion „verführen“ wollen. Zwei Bundesstaaten haben Gesetze gegen den „Love jihad“ erlassen, die interreligiöse Ehen zwischen muslimischen Männern und hinduistischen Frauen unter Strafe stellen.
- Mindestens ein Bundesstaat in Indien hat damit begonnen, das Recht muslimischer Frauen auf Bildung zu blockieren, indem er plötzlich ein Hijab-Verbot in Bildungseinrichtungen verhängt hat.
- Im Jahr 2019 änderte die indische Regierung ihre Staatsbürgerschaftsgesetze mit dem Ziel, den Ausschluss von Muslim*innen offiziell zu machen.
- Militante Anhänger*innen der Regierung greifen muslimische Unternehmen und Arbeitnehmer*innen gewaltsam an und rufen zum wirtschaftlichen Boykott der muslimischen Gemeinschaft auf.
- Im Februar 2020 starben bei einem viertägigen Pogrom in Delhi über 50 Menschen, die meisten der Opfer waren Muslim*innen. Die Angriffe begannen mit der Hassrede eines prominenten BJP-Führers, der zu gewaltsamen Angriffen auf Muslim*innen aufrief. Polizeibeamte unterstützten den Mob und schützten die Täter.
- Allein in den letzten vier Wochen (April 2022) hat es im ganzen Land eine Welle von Gewalttaten gegen die muslimische Gemeinschaft gegeben, die wenig bis gar keinen Zweifel daran lassen, dass Gregory Stantons alarmistisch klingende Vorhersage tatsächlich Realität geworden ist. In 11 Städten zogen gewalttätige, mit Schwertern bewaffnete Hindu-Mobs durch muslimische Ortschaften und entweihten dabei Moscheen. Angeführt von religiösen Hindu-Führern und BJP-Mitgliedern hielten diese Mobs anti-muslimische Hassreden, in denen sie zur Vergewaltigung muslimischer Frauen und zum „Beginn der ethnischen Säuberung der Muslim*innen in Indien aus dem östlichen Uttar Pradesh“ aufriefen. Als Reaktion auf die Gewalt, der die muslimischen Gemeinschaften in den letzten drei Wochen ausgesetzt waren, haben die indischen Behörden muslimische Männer verhaftet und ihre Häuser, Gebetsstätten und Arbeitsstätten mit Bulldozern zerstört.
Die Aktionen des hinduistischen Mobs können nicht als Randaktivitäten betrachtet werden, sondern sind Teil der übergeordneten Agenda von Modi, der BJP und ihren Anhänger*innen: es soll eine Hindu-Nation (Hindu Rasthra) geschaffen werden, mit Brahmanen (Priesterkaste) und Baniyas (Kaufmannskaste) an der Spitze der Hierarchie, die mit absoluter sozialer, politischer und wirtschaftlicher Macht ausgestattet sind, und sog. anderen bildungs- und sozial benachteiligten Kasten, (Other backward classes/OBC), Dalits und Adivasi mit wenig/keinen Rechten am unteren Ende.
Als indische Diaspora und besorgte deutsche Bürger*innen weigern wir uns, die täglichen Vorfälle von Menschenrechtsverletzungen in Indien und in Kaschmir zu ignorieren. Wir sehen die Komplizenschaft der indischen Regierung, die die Verbrechen gegen Muslim*innen und marginalisierte Gemeinschaften im Land begünstigt und zulässt. Viel zu lange hat die internationale Gemeinschaft die Gräueltaten der indischen Regierung aus Handelsinteressen heraus ignoriert. Wir glauben, dass die Zeit gekommen ist, in der demokratische Länder wie Deutschland die klaren Anzeichen von Faschismus und drohendem Völkermord in Indien nicht mehr ignorieren können. Deutschlands strategisches Interesse an Indien sollte durch die Sorge um die Menschen- und demokratischen Rechte ausgeglichen werden.
Wir glauben, dass die Modi-Regierung, um die diplomatischen und kulturellen Verbindungen aufrechtzuerhalten, Gewinne durch Handelsbeziehungen zu erzielen und militärische Allianzen zu schmieden, ein Image präsentieren will, das sie mit den westlichen demokratischen Werten übereinstimmt. Unter den in diesem Brief beschriebenen Umständen würde ein Treffen zwischen deutschen Regierungsvertreter*innen und Narendra Modi dazu beitragen, dessen Politik zu unterstützen und sollte daher vermieden werden. Bei bilateralen Gesprächen zwischen deutschen Regierungsvertreter*innen und indischen Gesprächspartner*innen sollte die alarmierende Menschenrechtslage in Indien mit Nachdruck zur Sprache gebracht werden und im Mittelpunkt der Gespräche stehen.
Wir danken Ihnen und freuen uns auf Ihr Handeln,
India Justice Project, Berlin for India und India Solidarity Germany
[i]Stanton, Gregory. 2022. “Early Signs of ‘Genocide’ in India: What Gregory Stanton Told the US Congress and Why.”National Herald, 23.01.2022.